Station 5 – Heidestraße 2 (C)

Arbeitsweg Goehlewerk – Judenlager Hellerberg

Marie Wobst – mariewobst@hotmail.com
Institut für Geschichte an der TU Dresden

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Wir gehen nun den Weg, den auch die jüdischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter zurück legen mussten. Viele von uns sind heute zum Mahngang Täterspuren mit der Bahn, dem Bus oder dem Fahrrad gekommen. Was für uns ganz normal ist, war für die Dresdner Jüdinnen und Juden jahrelang auch ganz normal.

Im Februar 1942 verabschiedete das Reichsinnenministerium aber einen vertraulichen Erlass. In diesem hieß es, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Menschen jüdischer Herkunft sei „auf das äußerste zu beschränken.“ In Dresden war man jedoch besonders eifrig. Schon zwei Monate zuvor hatte die Kreisleitung einen Antrag an die Dresdner Straßenbahnen gestellt. Damit sollte den Dresdner Jüdinnen und Juden grundsätzlich die Benutzung der Straßenbahn verboten werden.

Die Shoah-Überlebende Henny Brenner erinnert sich an diese Zeit: „Im Juli 1941 wurde ich in Dresden zur Zwangsarbeit verpflichtet und kam zu Zeiss-Ikon ins Goehle-Werk. Wir wohnten sieben Kilometer von der Fabrik entfernt, und ich durfte anfangs noch mit der Straßenbahn fahren, allerdings nicht in der Bahn, sondern draußen, auf dem Perron stehend.“ Später gab es eine eigene, gelb angestrichene Bahn. Mit ihr durften nur die jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter des Gohlewerks fahren. Diese Bahn war auch ausschließlich für den Arbeitsweg bestimmt.

Auch sie wurde im Mai 1942 schließlich abgeschafft. Es gab nun eine neue reichsweite Regelung. Diese verbot den jüdischen Menschen die Benutzung sämtlicher öffentlicher Verkehrsmittel. Nur Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, deren Arbeitsweg mehr als sieben Kilometer betrug, konnten eine Ausnahmegenehmigung erhalten. Nach einiger Zeit verbot die Polizei den Menschen jüdischer Herkunft in Dresden sogar das Radfahren. Das einzige Fortbewegungsmittel, das ihnen damit blieb, waren ihre Füße.

Henny Brenner wohnte damals in Striesen. Jeden Tag musste sie von dort nach Pieschen zum Goehlewerk laufen. Sie berichtet: „Nun mußte ich die sieben Kilometer lange Strecke zu Fuß zurücklegen. Die Schicht begann um sechs Uhr, ich mußte um vier Uhr aufstehen und um halb fünf von zu Hause losgehen. Wir hatten weder richtige Kleidung noch richtige Schuhe, oft kamen wir völlig durchnäßt in der Fabrik an. Manchmal hatte ich regelrecht vereiste Wimpern nach sieben Kilometern Fußmarsch in der Früh um fünf. Aber das alles war nicht so schlimm, solange es finster war.

Dieser tägliche Arbeitsweg quer durch die Stadt gestaltete sich für sie oft als Spießrutenlauf. Das galt für die meisten Dresdner Jüdinnen und Juden. Seit September 1941 waren die Menschen jüdischer Herkunft öffentlich gebrandmarkt. Denn sie durften nur noch mit dem sogenannten Judenstern auf die Straße gehen. Sie waren damit für jeden schon weithin sichtbar gekennzeichnet. Häufig beschimpften und attackierten Dresdner Bürger Juden auf offener Straße. Henny Brenner waren daher die Nachtschichten am liebsten. Nach dem Schichtende begegnete ihr kaum jemand auf den Straßen.

So konnte sie um diese Uhrzeit den Heimweg relativ unbeschadet zurücklegen. Anders sah das bei einer Tagschicht aus, wie sie berichtet: „Es war hell, und alle, die den Stern trugen, haben das gefürchtet. Manche Leute haben uns angepöbelt oder angespuckt. Oft liefen mir Kinder hinterher und riefen: »Judenschwein, Judenschwein, runter vom Gehsteig!« Ich habe aber auch erlebt, daß Menschen gesagt haben: »Kopf hoch, durchhalten!« Ich nehme an, das waren selbst Widerständler. Es waren nicht viele, die uns aufmunterten, aber es waren auch nicht viele, die uns anpöbelten. Die Allermeisten haben einfach weggesehen, haben sich überhaupt nicht um uns gekümmert.

Für die meisten Dresdner Jüdinnen und Juden änderte sich das im Winter 1942/43. Die Firma Zeiss Ikon AG war nicht mehr zufrieden mit der Leistung ihrer jüdischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter. Diese kamen aufgrund des langen Fußmarsches zur Arbeit oft schon völlig erschöpft im Goehlewerk an. Also wurde beschlossen, ein Arbeitslager in der Nähe zu errichten. Während wir heute versuchen, durch Bewegung möglichst viele Kalorien zu verbrennen, war die Idee bei der Errichtung des „Judenlager Hellerberg“ genau andersrum. Durch den kürzeren Arbeitsweg sollten die jüdischen Menschen ihre Energie sparen. Ihre tägliche Nahrungsration von 1.500 Kalorien sollte ausschließlich der Zwangsarbeit dienen.

Der tägliche Arbeitsweg war damit nur noch etwa einen Kilometer lang. Er führte nun nicht mehr quer durch die ganze Stadt. Wir merken es auch heute, wenn wir diesen Weg gehen: Hier ist es deutlich ruhiger, als in der Dresdner Innenstadt. Viele der Gebäude, die wir heute sehen, gab es damals noch nicht. Hier befanden sich hauptsächlich Industriebauten und kaum Wohnhäuser. Keine Straßenbahn fährt auf diesem Weg. So ruhig, wie wir diesen Weg heute erleben, so ruhig muss er auch den jüdischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern vorgekommen sein.

Und so wie wir heute waren die jüdischen Menschen ab diesem Zeitpunkt auch in größeren Gruppen unterwegs. Wir wissen nicht, ob sie in einer Kolonne unterwegs waren. Wir können aber davon ausgehen, dass sie den Arbeitsweg zum Goehlewerk gemeinsam zurücklegten. Noch immer waren sie durch den gelben Stern von weitem erkennbar. Noch immer waren sie damit als Entrechtete gekennzeichnet.

Doch nun waren sie nicht mehr allein, sondern zumindest in größeren Gruppen unterwegs. Die Kälte des Winters drängte sie vielleicht etwas zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. So wie uns heute. Kaum jemand begegnete ihnen in dieser abgelegenen Gegend. Und wenn doch, so wird er bestimmt die Straßenseite gewechselt haben. Wir wissen nicht, ob es auch auf diesem Weg zu Übergriffen kam. Doch es ist anzunehmen, dass auch hier die Dresdner Bevölkerung einfach weggesehen hat.

Die jüdischen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen haben so bestimmt ein Gruppengefühl entwickelt. Sie haben gemerkt, dass sie nicht allein sind. Sie haben sich vielleicht auch etwas sicherer gefühlt. Sie konnten sich etwas freier bewegen. Trotz der Entmenschlichung durch die Nationalsozialisten gaben sie nicht auf. Sie bewahrten sich dieses Mensch-sein. Sie gestalteten ihren Alltag so normal wie möglich und trotzten so ihrer Lage. Sie handelten und benahmen sich wie wir. Vielleicht plauderten sie auf dem Arbeitsweg miteinander. Vielleicht schwiegen sie auf dem Heimweg gemeinsam, erschöpft von der Arbeit.

Wir gehen heute den Weg, den die jüdischen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen vom Goehlewerk zum „Judenlager Hellerberg“ zurücklegen mussten. Henny Brenner musste selbst nicht dort leben. Doch die Erinnerungen an ihren Arbeitsweg verdeutlichen auch die Situation der jüdischen Lagerinsassen vor der Internierung. Anhand der verschiedenen Arbeitswege können wir verschiedene Formen der Täterschaft erkennen. Und damit auch den enormen Leidensdruck, unter dem die Dresdnerinnen und Dresdner jüdischer Herkunft standen.

Dieser Weg ist ein Heimweg von der Arbeit, der eigentlich gar keiner ist. Denn dieser Weg führt zu keinem Heim, zu keinem „Zuhause“. Dieser Weg führt zu einem weiteren Ort der Ausgrenzung, der Verfolgung und Vernichtung.

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