Station 6 – Hammerweg

Das Judenlager Hellerberg

Leonie von Wangenheim – Kontakt: leonie.v.wangenheim@gmx.de
Institut für Geschichte an der TU Dresden

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Einen guten Kilometer haben wir nun vom Goehle-Werk zurückgelegt. Dies war der tägliche Weg der jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen. Von hier aus sind sie jeden Morgen zur Arbeit gestartet und jeden Abend sind sie hierhin zurückgekehrt. Hier war ihr Zuhause, das eigentlich gar kein Zuhause war.

Heute sehen wir von diesem Ort nichts mehr. Vor 76 Jahren aber stand an dieser Stelle das sogenannte Judenlager Hellerberg. Damals hätten wir hier sieben Baracken sehen können. Sieben Baracken mit Fenstern und Fensterläden, kleinen Schornsteinen. Das Gelände war nicht eingezäunt, aber bewacht. Der Boden war matschig-morastig oder gefroren von der Kälte.

Davon ist heute nichts mehr übrig. Dennoch hat das Lager Spuren hinterlassen. Spuren in Lebensläufen. Spuren in Zeugnissen und Dokumenten. Spuren, die uns noch heute etwas über das Damals verraten.

Das Lager gab es in dieser Form nur etwas mehr als drei Monate. Zwischen Ende November 1942 und März 1943 lebten etwa 280 Menschen hier. Sie arbeiteten größtenteils für Zeiss Ikon und gehörten zu den letzten Dresdner Juden, die noch nicht aus der Stadt deportiert worden waren.

Heinz Meyer war einer von ihnen. Der gebürtige Dresdner überlebte Buchenwald und Auschwitz. Kurz nach Kriegsende erinnerte er sich an seine Zeit an diesem Ort so:

„Im Barackenlager zum Hellerberg fühlten wir uns eigentlich ganz wohl, weil man den Gedanken los war, dass bei jedem scharfen Klingeln eine Haussuchung steigt. Die Baracken waren sehr sauber und wir hatten sie nach kurzer Zeit bald ganz gemütlich eingerichtet. Der Weg zur Fabrik war sehr nah, was für Einzelne auch ganz angenehm war, da man keine Straßenbahn mehr benutzen durfte, wenn der Weg unter 7 Kilometer war. […] Wir waren bestimmt ganz zufrieden da, denn man war viel ruhiger.

Wie alle jüdischen Menschen war Heinz Meyer zu dieser Zeit seiner persönlichen Freiheiten beraubt. Er lebte wie ein Gefangener und wurde zur Arbeit gezwungen. Und doch benutzt er das Wort „zufrieden“. Und doch hören wir aus seinen Worten ein irritierendes Gefühl der Erleichterung. Wie kann das sein?

Heinz Meyer konnte überhaupt erst erleichtert sein, weil das Leben in der Stadt schon zu einem Albtraum geworden war. Wie überall im Reich galten auch in Dresden diskriminierende Gesetze. Wie überall zeigte sich auch in Dresden das menschenverachtende Weltbild der Nationalsozialisten. Denn auch in Dresden wurden jüdische Geschäfte boykottiert und arisiert, Jüdinnen und Juden ihrer Lebensgrundlage beraubt. Auch in Dresden wurden jüdische Menschen zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt und ausgeschlossen. Auch in Dresden mussten sie ihre Wohnungen verlassen, ihr Hab und Gut abgeben und in Judenhäuser ziehen. Und selbst in diesen vier Wänden waren sie vor Diskriminierung, Schikane und Terror nicht sicher. Regelmäßig verschaffte sich die Gestapo Zutritt zu ihren Wohnungen und Häusern. Henny Brenner, Tochter einer Jüdin, erinnerte sich später so an die Hausdurchsuchungen:

„Sonntags früh, als die Leute, die die ganze Woche schwer arbeiteten, ihre Ruhe haben wollten, erhielten sie regelmäßig Besuch der bekannten Nazischergen Clemens und Weser. Sie ließen ihre Finger auf den Klingelknöpfen, drangen in die Wohnungen ein und terrorisierten die Bewohner. Der „Spucker“ spuckte in die Töpfe mit dem bisschen Essen, das man bekam; die anderen schlitzten die Feldbetten auf, stopften die alten Leute mit Brot voll, das sie hinunterschlingen mussten, ließen jüdische Männer Gebete aufsagen und dazu tanzen. Sie selbst amüsierten sich bei diesen ‚Scherzen‘. Sie nahmen auch immer ein paar Leute mit, die danach nie wieder gesehen wurden.“

Manche hielten diese Art von Terror nicht aus und begingen Suizid. Im Lager Hellerberg musste man zwar auf noch engerem Raum und in noch primitiveren Verhältnissen als in den Judenhäusern leben. Die Gestapo ließ die Menschen aber immerhin meist in Frieden.

Wie aber kam es überhaupt dazu, dass die Jüdinnen und Juden in das Lager ziehen mussten? 1942 hatte man einiges unternommen, um möglichst bald melden zu können, dass die Stadt Dresden „judenfrei“ sei. Bis Ende September waren alle in Betracht kommenden jüdischen Menschen deportiert worden. In Dresden gab es jetzt nur noch einige hundert von ihnen. Ihnen blieb die Deportation zunächst erspart, weil sie in sogenannter Mischehe lebten, sie in der Verwaltung der jüdischen Gemeinde tätig waren oder die Nazis meinten, sie für den Arbeitseinsatz in kriegswichtigen Betrieben zu benötigen.

Solch ein kriegswichtiger Betrieb war auch das Goehle-Werk der Zeiss Ikon AG. Im Herbst 1942 beschloss man, die jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen in der Nähe des Betriebes unterzubringen. Dieses Vorgehen erschien allen Beteiligten zweckmäßig: Die Gestapo konnte die Juden und Jüdinnen so optimal überwachen. Die Kreisleitung wollte verhindern, dass es zu Schwierigkeiten im Kontakt mit der sogenannten arischen Bevölkerung kam. Und das Unternehmen Zeiss Ikon vermied, dass die Arbeitskräfte ihre wertvolle Energie schon auf zu langen Arbeitswegen verschwendeten.

Ein überlieferter Film zeigt, wie die Einrichtung des Lagers ablief. Wie Möbel und Eigentum aus den Wohnungen der Jüdinnen und Juden abtransportiert werden. Wie die Menschen sich vor ihrem Einzug ins Lager in der Städtischen Entseuchungsanstalt einfinden müssen. Wie sie dort auf Krankheiten und Läuse untersucht werden. Wie sie im Lager eintreffen, ihr Gepäck sortieren, sich einfinden und einleben. Die Bilder spiegeln immer wieder die Verachtung gegenüber den jüdischen Menschen wider. Wenn ihnen bei der Entlausung schamlos ins Gesicht gefilmt wird. Wenn wir ihre nackten Körper bei der ärztlichen Untersuchung begutachten können. Wenn die Kamera Szenen von ungeschickt, in ihren Holzschuhen stolpernden Menschen in Nahaufnahmen auskostet. Wir kennen den Namen des Kameramanns dieser Bilder. Erich Höhne ist in der DDR ein erfolgreicher Fotograf geworden. Über die genauen Hintergründe des Films können wir aber nur spekulieren.

Auch vom bekannten Dresdner Romanisten Victor Klemperer erfahren wir etwas über das Lager Hellerberg. Weil er mit einer Nichtjüdin verheiratet war, blieb Klemperer selbst vom Einzug ins Lager verschont. Anders als sein Bekannter Martin Reichenbach. Der ehemalige Rechtsanwalt war 1938 schon einmal für kurze Zeit in Dachau inhaftiert gewesen. Nun musste er im Hellerberger Lager leben. Ein paar Tage nach dessen Einrichtung begegnen sich Martin Reichenbach und Victor Klemperer. Darüber schreibt Klemperer in seinem Tagebuch:

„Aber er [Reichenbach] war guten Mutes.

-‚Nicht halb so schlimm. Wenn uns nichts Schlimmeres geschieht, können wir es aushalten.‘-

Ich merkte aber bald die Jämmerlichkeit seines Zufriedenseins. Er hatte es sich eben noch gräßlicher vorgestellt, er war schon glücklich, daß ihn niemand verprügelte. Der Gemeinschaftsraum für neun Ehepaare-

-‚Man gewöhnt sich daran‘-

Die Aborte-

-‚Nur vorn offen – aber durch Seitenwände getrennt, und Deckel, keine Stangen – natürlich keine WC’S‘

Der Waschraum-

-‚über den Hof und sehr kalt, aber es sind große Waschschüsseln da.‘-

Das Essen-

-‚gestern hat es noch nicht geklappt, aber es wird schon eingerichtet werden.‘-

Kläglich. […] Alles in allem also Gefangenschaft und qualvolles Vegetieren.[…]“

Für die Unterbringung im Lager mussten die Menschen übrigens bezahlen. 60 Reichspfennig Miete waren pro Tag und Person an Zeiss Ikon fällig. Die Kosten für Lebensmittel rechnete das Unternehmen jeweils am Monatsende ab.

Anfang Dezember urteilt Klemperer in seinem Tagebuch: „Es ist gar zu jämmerlich, daß diese Gefangenschaft schon als halbes Glück gilt. Es ist nicht Polen, es ist nicht das KZ! Man wird nicht ganz satt, aber man verhungert nicht. Man ist nicht geprügelt worden. Usw. usw.“

Trotz aller Grausamkeiten, trotz aller Diskriminierung und bürokratisierter Ausbeutung: Die Menschen im Lager nutzten den geringen Handlungsspielraum, den sie hatten. Auf dem überlieferten Film können wir sehen, wie sie die Baracken mit Leben füllten. Wie sie es sich trotz allem ein wenig gemütlich machten. Und wie ab und zu sogar ein Lächeln über ihre Gesichter huscht. Mit dem Versuch, das wenig Positive zu sehen, schafften die Jüdinnen und Juden es, sich ihre Menschlichkeit zu erhalten. Nein, für die Menschen jüdischer Herkunft war das Lager Hellerberg nicht das Schlimmste. Mehr oder weniger eingesperrt auf engstem Raum leben. Fast nur zur Arbeit entlassen, die man gezwungen war zu tun. Wenig Essen, wenig Würde. All das war für sie nicht das Schlimmste. Denn Schlimmes lag bereits hinter den Dresdner Jüdinnen und Juden. Und das Schlimmste erwartete sie erst noch.

Am 27. Februar 1943 wird den Insassen mitgeteilt, dass sie ab sofort nicht mehr zur Arbeit gehen. In den Morgenstunden wird das Arbeitslager zum „Polizeihaftlager“ erklärt. Das Gelände wird nun eingezäunt und bewacht. Im Rahmen der sogenannten „Großaktion Juden“ hatte man beschlossen, dass man die Jüdinnen und Juden nicht mehr für die Arbeit im Goehle-Werk und auch für keine andere Arbeit benötigte. Inzwischen gäbe es genug ausländische Zwangsarbeiterinnen, die sie ersetzen könnten. Stattdessen rollen Anfang März LKWs in Lager. Auf ihnen werden die jüdischen Gefangenen zum Güterbahnhof Neustadt gebracht. Von dort aus erfolgt am frühen Morgen die Deportation nach Auschwitz. Für die meisten der knapp 300 Dresdner und Dresdnerinnen führt der weitere Weg dort direkt in die Gaskammern. 50 von ihnen arbeiten noch eine Zeit lang im Konzentrationslager. Nur zehn erleben die Befreiung von Auschwitz.

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