Umgang mit geschlechtlichen Identitäten

Geschlechtliche Normierung und Pathologisierung, und damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung sind in der westlichen Welt historisch tief verwurzelt, und nicht spezifisch für den Nationalsozialismus. Dennoch spielte sie für die Nationalsozialist*innen eine besondere Rolle, und zwar als Gefahr für den sogenannten „gesunden Volkskörper“.

Die Station, die den Umgang des Nationalsozialismus mit Menschen behandelt, die nicht in die von den Nazis propagierte geschlechtliche Norm passen, liegt am Trinitatisfriedhof. Hier wurde Lili Elbe begraben. Sie wurde 1882 in Dänemark geboren, lebte von 1912 bis 1930 in Paris und verstarb am 12. September 1931 in Dresden. Sie identifizierte sich als Frau, und nicht mit dem bei der Geburt eingetragenen männlichen Geschlecht. Heute würden wir sagen, sie war trans. Lili Elbe war eine Vorreiterin für trans Rechte sowie bei der Entwicklung von medizinischen Maßnahmen und ist bis heute eine Ikone der queeren Szene. 1930 fasste sie den Entschluss, geschlechtsangleichende Operationen durchführen zu lassen. Sie zog im Februar 1930 nach Berlin, wo die erste Operation durchgeführt wurde, und wechselte im Mai desselben Jahres erneut ihren Wohnort nach Dresden, wo die zweite, dritte und vierte Operation durchgeführt wurden. An den Folgen des vierten und letzten Eingriffs verstarb sie 1931, selbstbestimmt bis zum Ende. Sie erlebte nicht mehr, wozu die Deutsche Mentalität in der Lage sein würde.

Durch den Machtantritt der Nationalsozialist*innen erlebte die queere Szene und Subkultur, die schon seit der Jahrhundertwende insbesondere in Berlin florierte, und sich unter anderem auch politisch organisierte, einen herben Rückschlag. So wurde das Institut für Sexualwissenschaft, mitbegründet durch den queeren Pionier Magnus Hirschfeld, im Mai 1933 durch die Nationalsozialist*innen gestürmt und alle Unterlagen verbrannt. Die Spur einer der durch den Arzt Hirschfeld in der Transition begleiteten trans Frauen, Dorchen Richter, die am Institut eine Anstellung hatte, verliert sich nach diesem Tag gänzlich. Vermutlich wurde sie ermordet. Geschlechtsangleichende Operationen auf eigenes Bestreben wie im Fall von Lili Elbe oder auch Dorchen Richter, wären im Nationalsozialismus nicht möglich gewesen.

Viele Aspekte und Facetten prägen unser Verständnis von Geschlechtsidentität und sind miteinander verwoben. Dass es mehr als die zwei Geschlechtsidentitäten „weiblich“ und „männlich“ gibt, ist bereits seit der Antike bekannt. Die in der Geschichte bis heute unzähligen Zeugnisse der Unterdrückung von Menschen, die nicht in eine dieser beiden Kategorien „passen“, sei es durch ihre Geschlechtsidentität, oder durch körperliche Merkmale, belegen das eindrucksvoll. Das betrifft nicht-binäre Personen, die sich nicht mit „männlich“ oder „weiblich“ identifizieren, oder Menschen mit angeborenen körperlichen Geschlechtsmerkmalen, die nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von „männlich“ und „weiblich“ entsprechen, die also inter* sind. Inter* Personen führten und führen einen grundlegend anderen Kampf als trans Personen.

Die Idee, dass die Ausprägung der Geschlechter viel mehr ein Spektrum als scharfe Kategorien darstellt, kam in der westlichen Welt 1915 erstmals auf und wurde vorerst bei naturwissenschaftlichen Untersuchungen an Insekten verwendet, bis der Urheber Richard Goldschmidt 1936 aus Deutschland fliehen musste. Seine Theorien zum Thema „Intersexualität“, wie er sie selbst bezeichnete, wurden von den Eugeniker*innen der dreißiger Jahre missbraucht, um Rassentheorien und Menschenverfolgung zu rechtfertigen. Dabei erklärten sie mit dieser Theorie alle von ihrer gesetzten Norm abweichenden Geschlechter- und Sexualitätsausprägungen.

Inter* Personen erhielten häufig eine Zuordnung in eine der beiden binären Geschlechtskategorien und wurden entsprechend erzogen. Im Sinne der sogenannten „Rassenhygiene“ wurde vielen inter* Personen eine Eheschließung verweigert, oft wurden sie zwangssterilisiert.

Nach heutigen Erkenntnissen wurde nicht empfohlen, bei inter* Personen vor der Pubertät eine Operation zu Angleichung der Körpermerkmale an eine geschlechtliche Kategorie zu erreichen, damit sich das psychische Geschlecht herausbilden könne. Ob diesen Empfehlungen immer gefolgt wurde, kann sehr berechtigt in Zweifel gezogen werden. Aus Forschungsbefunden lässt sich die Vermutung ableiten, dass Operationen, auch an Kindern, ohne Kenntnis oder Einwilligung durchgeführt wurden. Es gibt Belege für zwei Leistenbruchoperationen, bei denen zwei sich als männlich identifizierenden und sozialisierten Personen ihre Intergeschlechtlichkeit vorenthalten wurde. Während der unabhängig voneinander stattfindenden Operationen stellten die behandelnden Ärzte fest, dass die männlichen Patienten einen Uterus besaßen. Die Behandler*innen entschieden, ihren Patienten diesen Befund zu verschweigen. Einer der Ärzte entschied sogar noch weiterzugehen und den Uterus zu vollständig zu entfernen, ohne eine Einwilligung einzuholen.

Allgemein ist der Forschungsstand zu trans und inter* Personen in der NS Zeit eher spärlich. Oft stützen sich die Aussagen nur auf medizinische Forschungsarbeiten oder Krankenakten, die oft beschönigen, häufig geschwärzt sind und offensichtliche Auslassungen aufweisen. In Dresden war es uns mit dem derzeitigen Forschungsstand nicht möglich, Personen oder Orte ausfindig zu machen – die es aber sicherlich gegeben hat.

Bis heute kämpfen trans und inter* Personen um ihre Rechte. Unsere Gesellschaft ist in großen Teilen immer noch von den schon zur NS-Zeit existierenden geschlechtlichen Normvorstellungen geprägt. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden schwer verstümmelnde medizinische Eingriffe an inter* Kindern ohne Einverständnis durchgeführt, um sie in ein binäres Gesellschaftssystem einzufügen. Mit dem sogenannten Transsexuellengesetz besteht weiterhin eine diskriminierende Hürde auf dem Weg zur Selbstbestimmung von trans Personen. Würde und Grundrechte von trans und inter* Personen werden fundamental verletzt.

Trans und inter* Personen sind ein kaum anerkannter Teil der verfolgten Gruppen des Nationalsozialismus. Bis heute ist es notwendig, dass wir uns mit ihrem Kampf gegen Marginalisierung und für Selbstbestimmung solidarisieren, damit wir gemeinsam und entschlossen gegen völkisches Gedankengut handeln können.

Literatur

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https://magnus-hirschfeld.de/, abgerufen am 10.02.2022 um 18:58

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