Gegenüber der Frauenkirche steht überlebensgroß ein Martin-Luther-Standbild auf seinem Sockel. In der Hand hält er eine Bibel, das Buch, das für ihn wichtig war, das er ins Deutsche übersetzt hat. Luther, ein Mensch mit bedeutenden Erkenntnissen und Irrtümern. Ein großer Mann, über die Jahrhunderte hinweg verehrt, in jeder Zeit mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Diese bronzene Skulptur, von Adolf von Donndorf entworfen, wurde 1885 an dieser Stelle errichtet, als der 400ste Geburtstag von Martin Luther gefeiert wurde. Damals war er längst zur Symbolgestalt des deutschen Nationalismus gemacht geworden. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 entwickelte sich der Nationalismus ungehemmt. Wer gehört zur Nation, wer gehört nicht dazu? Das Nationalbewusstsein stützte sich auf Überheblichkeit und auf Abgrenzung von denen, die nicht dazu gehören sollten. So erstarkte mit ihm der Antisemitismus, wie siamesische Zwillinge gehörten Nationalismus und Antisemitismus zusammen.
Das nationalistische Gedankengut, das nur die Volksgemeinschaft im Blick hatte, aber nicht den einzelnen Menschen in seiner Würde und Einmaligkeit, bahnte den Weg zur Bewegung der Deutschen Christen nach dem Wahlsieg Hitlers 1933. Diese Deutschen Christen wollten die Kirchen in ganz Deutschland neu organisieren als Teil der völkischen Bewegung, sie wollten die eigentliche Volkskirche sein. Damit missachteten sie die Grundlagen ihres eigenen Glaubens. In manchen Landeskirchen hatten sie damit Erfolg, so auch in Sachsen. Die sogenannte „braune Synode“ wählte im August 1933 Friedrich Coch, der NSDAP-Mitglied war und zur Bewegung der Deutschen Christen gehörte, zum sächsischen Landesbischof. Er führte sich am 10. Dezember 1933 in der Frauenkirche selbst ein. Während seiner Amtseinführung wehte oben auf der Kuppel der Kirche die Hakenkreuzfahne. Am selben Tag beschloss die Synode „28 Thesen der Sächsischen Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche“. Darin heißt These 1: „Die Volkskirche bekennt sich zu Blut und Rasse, weil das Volk eine Blut- und Wesensgemeinschaft ist.“ Damit schloss sie sich dem totalitären Anspruch des nationalsozialistischen Staates und seiner Rassenideologie an und erklärte ihn als den Willen Gottes. Schon vorher, im September 1933 wurde im Staat und auch in der Sächsischen Landeskirche das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und damit der Arierparagraph eingeführt, Pfarrer jüdischer Herkunft und andere, die den Nationalsozialismus ablehnten, wurden nach und nach aus dem Amt gedrängt, beurlaubt, entlassen.
Was jedem Menschen mit seiner Taufe gilt, seit es Christen gibt, wurde verraten. Christen, die aufgrund der Rassengesetze als Juden zählten, verloren schrittweise jegliche Unterstützung durch weite Teile der Kirche. Spätestens seit Anfang 1934 wurden jüdische Taufanträge nicht mehr bearbeitet, am 22.2.1939 wurde die Aufnahme von Juden in die Landeskirche offiziell untersagt, Christen jüdischer Herkunft waren nicht mehr kirchensteuerpflichtig, Pfarrer waren zu Amtshandlungen an ihnen nicht mehr verpflichtet, kirchliche Räume durften dafür nicht mehr benutzt werden, am 17. Dezember 1941 wurden sie aus der Landeskirche ausgeschlossen.
Als Deutschland aus dem Völkerbund austrat, erklärte die sächsische Kirchenleitung dazu: „Lutherischer Geist will in Freiheit wachsen. Er kann nicht in Knechtschaft gedeihen.“ Vertragsbeziehungen zwischen Völkern wurden also als belastende Einschränkung verstanden. Politische Schritte wurden religiös interpretiert.
Die Frauenkirche, ursprünglich errichtet als evangelisch-lutherische Bürgerkirche, erhielt am Reformationstag 1934 die Bezeichnung „Dom der Deutschen Christen“. Einzelne Pfarrer widersetzten sich der Ideologie der Deutschen Christen, so auch Hugo Hahn, der ab 1930 Pfarrer an der Frauenkirche war. Mit anderen Pfarrern engagierte er sich ab 1933 im Pfarrernotbund, später in der Bekennenden Kirche. Dafür wurde Hugo Hahn beurlaubt und 1938 wegen seines Widerstands aus Sachsen ausgewiesen. In der Frauenkirche jedoch wurde von deutsch-christlichen Pfarrern in ideologischer Verblendung gepredigt.
Der Nationalismus ist bis heute ebenso verlockend wie gefährlich. Auch Christen finden sich in nationalistischen Bewegungen, auch hier in Dresden, sie ignorieren dabei, dass das Christentum die Gleichheit aller Menschen lehrt.
„Den anderen nur als den anderen wahrzunehmen, ist der Beginn von Gewalt“, so formulierte es Ilija Trojanow am 29.1. 17 im Schauspielhaus in seiner Dresdner Rede. Wer sich nur in seiner Gruppe stark fühlt und auf andere herabblickt, die anders leben, anders glauben oder woanders her sind, der vergisst die Nächstenliebe, widerspricht der christlichen Lehre, lässt sich verführen zu Hass und Menschenfeindlichkeit. Ein wirksames Mittel dagegen wäre die Aufmerksamkeit für die Menschen in Not. Wichtig ist es, im andern zuerst den Menschen zu sehen.